Ostdeutsche in der Elite: „Etliche von uns sind nicht geoutet“

Forscher raten zu vertikalen Netzwerken, eine Spitzenbankerin spricht über ihr Outing als Ossi, die Ostbeauftragte von ihrer Mutter. Das lernt man auf einer Tagung über ostdeutsche Karrieren.
Elisabeth Kaiser steht auf einer Bühne in Leipzig und redet über die Jahre nach der Wende. Sie ist 37 Jahre alt, sie zwar zwei, als die Mauer fiel. Aber sie ist auch die neue Ostbeauftragte der Bundesregierung. Sie kommt aus Gera, ist im Plattenbau aufgewachsen, die 1990er-Jahre waren hart, „auch bei uns zu Hause war es nicht anders“. Im Saal sitzen Wissenschaftler, Studenten, ein paar Journalisten, fast alle kommen ebenfalls aus dem Osten, besonders voll ist es nicht. Gleich soll hier ein paar Stunden lang darüber diskutiert werden, warum Ostdeutsche es in Deutschland so selten in die Elite schaffen.
Der Saal hat keine Fenster, man fühlt sich eingeschlossen, genauso wie in diese Debatte, die ja eigentlich gar keine Debatte ist, sondern ein Selbstgespräch. Der Osten redet seit Jahren vor sich hin. Mal ein bisschen lauter, dann guckt der größere Teil des Landes verstört auf und mahnt einen anderen Ton an.
Ein Topjob ist Ostdeutschen sicherJa, die 1990er. Ja, die Eltern, die gesagt haben, „Du hast ja ganz andere Möglichkeiten als wir damals“, so wie die Mutter von Elisabeth Kaiser. Auch das erzählt die Ostbeauftragte. Kaiser hat ihre Chancen genutzt, ist in der SPD und der Bundespolitik aufgestiegen und gerade Staatsministerin geworden. Immerhin stellt die Bundesregierung auch weiterhin eine Beauftragte für das ostdeutsche Selbstgespräch ab. Eine Topposition in Deutschland, die den Ostdeutschen sicher ist.
Sonst läuft es weniger gut, wie die Studie erneut belegt, die Kaiser in Leipzig vorstellen soll, der „Elitenmonitor“. In einem ersten Statement hatte die Ostbeauftragte die Ergebnisse optimistisch gedeutet, weil die Forscher, die in Leipzig, Jena und Zittau/Görlitz die deutsche Elite beobachten, einen winzigen Anstieg festgestellt haben. Der Anteil von Ostdeutschen in den Topjobs ist 1,2 Prozentpunkte höher als vor sechs Jahren! Er beträgt jetzt 12,1 Prozent. Der Anteil von Ostdeutschen in der Bevölkerung liegt, je nach Zählweise, bei 18 bis 20 Prozent.

Im fensterlosen Saal in Leipzig sagt Elisabeth Kaiser, das sei „ernüchternd“. Immerhin habe man es dank der Studie „schwarz auf weiß“. Etablierte Strukturen ändere man nun mal nicht „von heute auf morgen“. Die Forscher haben ausgerechnet, dass es 42 Jahre dauern wird, bis Ostdeutsche fair in Führungspositionen vertreten sind, wenn es so weitergeht wie seit 2018. Kaiser, die zum Mauerfall ein Kleinkind war, wäre dann fast 80. Aber vielleicht hätte ihr zweites Kind, das in wenigen Wochen geboren wird, eine Chance, in Deutschland aufzusteigen. Man soll als Ostdeutscher ja zuversichtlich bleiben. Elisabeth Kaiser sagt, sie wolle in den nächsten vier Jahren „eine starke Stimme für den Osten“ sein. Sie klingt ein bisschen kämpferisch.
Liebe Ossis, bitte nicht so wütend!Dann tritt eine Frau vom Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, dem Veranstaltungsort, an das Mikrofon und mahnt. Die Ostdebatte sei zuletzt mit zu viel Wut geführt worden. Wut sei „unproduktiv“, sagt sie. „Mit Wut lässt sich am Ungleichgewicht nichts ändern.“ Man solle das alles ganz „unaufgeregt“ besprechen.
Das ist der Dirk-Oschmann-Moment der Tagung. Auch wenn der Name des Literaturwissenschaftlers, der hier in Leipzig lebt, nicht fällt. Sein Buch regt die Leute dauerhaft auf, zum Teil, weil sie sich in seinen Schilderungen der Herabsetzungen von Ostdeutschen wiedererkannt haben. Fast noch dauerhafter scheint es Leute aufzuregen, die es unmöglich finden, dass ein Ostdeutscher so ein Buch geschrieben hat, eine Polemik, undifferenziert, laut.
Man könnte auch der Ansicht sein, dass viel zu wenig Wut geäußert wird im Osten, über den viel zu geringen Anteil an der Macht. Denn das sind Spitzenpositionen ja letztendlich. Wer in Deutschland Unternehmen leitet, ein Theater, eine Behörde, wer Richter oder Minister oder Gewerkschaftschefin ist, gestaltet das Land mit. Man könnte auch der Ansicht sein, dass sich weder Wütendsein noch Nichtwütendsein lohnen und man von dem ganzen Thema die Nase voll hat.
Auf die Bühne tritt Lars Vogel, ein Politikwissenschaftler der Uni Leipzig, der selbstbewusst sächselt, sehr gut gelaunt wirkt, zu den Leitern des „Elitenmonitors“ gehört und erklärt, warum an der „These vom nachholenden Aufstieg“ nichts dran zu sein scheint. Die These besagt: Die Ossis kommen schon noch in den Topjobs an, sobald sie die Diktatur überwunden, eine gesamtdeutsche Ausbildung genossen haben und so weiter. Vogel sagt, dass man in Deutschland im Durchschnitt im Alter von 48, 49 Jahren in die oberste Führungsebene einsteige. Wer heute 49 ist, war beim Mauerfall 13. „Die Ostdeutschen könnten schon da sein.“ Es gebe auch genug Wechsel in Spitzenjobs, Positionen würden immer wieder frei.
Was es braucht, um ganz nach oben zu kommenRaj Kollmorgen, Soziologe der Hochschule Zittau/Görlitz, hat für den „Elitenmonitor“ nicht Zahlen erhoben, sondern in langen, wissenschaftlichen Interviews mit Menschen gesprochen, die trotz Ostbiografie bis ganz nach oben aufgestiegen sind. Daraus hat er abgeleitet, was hilfreich ist: das richtige Studienfach, eine Uni mit Prestige, was in den meisten Fällen heißt, eine im Westen, eine frühe Einbindung in „Netzwerke der Macht“, in denen man lernt, wie man die Dinge zu machen, wie man zu reden hat, in denen man „kulturelles Kapital“ erwirbt.
Man muss die „Selbstrepräsentation“ beherrschen, die Eigenwerbung. Das alles könne dazu führen, dass man „angesprochen und gefragt“ werde.
So werden die echten Topjobs vergeben. Ausschreibungen gibt es meist nicht oder nur zum Schein. Für Ostdeutsche sei nachteilig, dass sämtliche Machtzentralen im Westen liegen, sagt Kollmorgen. Die Unternehmen etwa, in denen man am besten schon als Praktikant die richtigen Leute kennenlernt. Ostdeutsche zeigten auch eine größere Risikoaversion, orientierten sich auf Jobs, die Absicherung bieten, „das wird durch die Eltern bis heute transportiert“.
In der Diskussionsrunde, die folgt, kann man lernen, dass man beim Netzwerken aufpassen sollte: Vertikale Netzwerke, in denen auch Leute aus höheren Ebenen mitmachen, seien horizontalen vorzuziehen. Man solle ins richtige Ausland gehen, das richtige ist, man ahnt es, das westliche Ausland. Raj Kollmorgen warnt vor einer moralischen Bewertung von Chefs, die lieber Leute einstellen, die ihnen ähneln; das sei in allen Gesellschaften so. Und das grenze nicht nur Ostdeutsche aus, sondern alle, die nicht westdeutsche Akademiker seien. Die Frage sei, wie man es auflösen könne.
Es wird dann eine Stunde lang über die mangelnde Vertretung von Frauen im Bundestag und die Jobchancen von Menschen mit Migrationshintergrund im Bundesfamilienministerium geredet. Zwei Forscherinnen stellen Studien vor. Man lernt den Begriff „rassismusvulnerable Personen“ kennen.
Ein General aus dem Westen, eine Topbankerin aus dem OstenEs wird Abend. Der Saal leert sich weiter. Man kann riechen, dass es draußen in Leipzig regnet. Aber es lohnt sich, zu bleiben. Es kommt noch eine Podiumsdiskussion mit vier Menschen, die in vier verschiedenen Bereichen selbst Karriere gemacht haben.
Einer kommt aus dem Westen, anders geht es in seinem Fall nicht. Wolfgang Ohl ist Generalmajor der Luftwaffe. Er soll erklären, warum in der Bundeswehr null Prozent der Spitzenkräfte aus dem Osten stammen. Das ist der schlechteste Wert im „Elitenmonitor“. Ohl sagt, er habe die Spitzen anders gezählt und sei auf 1,3 Prozent gekommen.
Das sei auch nicht viel, aber leicht zu erklären. In der Bundeswehr müsse jeder, der ganz nach oben wolle, Schritt für Schritt, Ausbildung für Ausbildung aufsteigen, alle gingen den gleichen Weg. Die Chefs der Stäbe seien deshalb allesamt zwischen 1960 und 1965 geboren und zwischen 1980 und 1985 in die Bundeswehr eingetreten. General könne man frühestens mit 48 werden. Es gebe inzwischen vier Generäle, die im Osten geboren wurden.
Muss man nicht trotzdem mehr tun, um Ostdeutsche zu fördern, wird Ohl gefragt. „Nee“, sagt er, „die kommen.“
Simona Stoytchkova, geboren in Bulgarien, aufgewachsen auf der Fischerinsel in Ost-Berlin, Plattenbaukind wie die Ostbeauftragte, erzählt von ihrem „Outing“. Sie war Bankerin in London und Frankfurt am Main, saß in der Chefetage eines internationalen Finanzunternehmens. Und sagte erst da, dass sie aus dem Osten kommt. „Etliche von uns sind nicht geoutet“, sagt sie. Sie selbst hat inzwischen sogar ein Buch geschrieben, das „Die aus dem Osten“ heißt, und will jetzt anderen Ostdeutschen und Leuten aus Arbeiterfamilien helfen, den Weg nach oben zu gehen.
Sie redet den Forschern im Saal ins Gewissen. Die Unis seien in der Verantwortung, die müssten Studenten mit Unternehmen zusammenbringen, mit Mentoren, mit Vorbildern, gerade im Osten. „Ich werde sehr oft von Unis eingeladen“, sagt sie, „ausschließlich im Westen.“
Der Journalist Cornelius Pollmer erzählt, dass er lange nur einen ostdeutschen Chef hatte. Als Schülerpraktikant in einer Autowerkstatt. Jetzt leitet er das Büro der „Zeit im Osten“, im Verlag in Hamburg ist ein Ostdeutscher in der Führungsebene. Es gebe, was den Mangel von Ostdeutschen in der Elite angehe, kein „Erkenntnisproblem“, es gebe auch wenig Aussicht, dass sich etwas ändert.
Die einzige ostdeutsche Unipräsidentin Gesine Grande, Leiterin der BTU Cottbus-Senftenberg, soll auf die Frage antworten, die in keiner Ostdebatte fehlen darf, nämlich die, ob es nicht mal genug sei damit. Sie sagt: „An den Universitäten gibt es keine Ostdebatte.“
Die Stimmung auf der Bühne ist heiterer, als das klingt. Das ostdeutsche Selbstgespräch kann auch gelassen geführt werden. Die Unipräsidentin Grande sagt, je älter sie werde, desto mehr beschäftige sie das Thema. Da sei ihr auch egal, ob andere finden, dass man aufhören solle, drüber zu reden. Der Journalist Pollmer rät dazu, sich nicht zu ärgern, wenn man als Quotenostdeutscher irgendwo dabei sei, sondern das „Ost-Ticket“ dann einfach zu nutzen. Die ehemalige Spitzenbankerin Stoytchkova sagt: „Ich wünschte, ich hätte mich viel früher geoutet.“ Der Bundeswehrgeneral Ohl hört zu und sieht ein bisschen verwundert aus.
Berliner-zeitung